Die meisten Führungskräfte haben in klassischen Führungsweiterbildungen ein ausreichendes Wissen zu den wesentlichen Instrumenten der Führungsarbeit sowie der operativen und strategischen Steuerung ihres Führungsbereichs erworben.
Diese Führungskräfte wissen dementsprechend Bescheid über die wichtigsten Elemente zielorientierten Arbeitens, was in zielorientierten Sitzungen oder in Beurteilungs- bzw. Motivationsgesprächen zu beachten ist; sie kennen die Maßnahmen zur strategischen Ausrichtung einer Unternehmenseinheit, die Prinzipien zur Strukturierung von Organisationseinheiten und auch den Unterschied zwischen Leadership und Management. Dementsprechend haben diese Führungskräfte keinen Bedarf an weiteren belehrenden Vorträgen bzw. noch mehr Wissen über Instrumente und Patentrezepte der Führung. Dies mag eine Enttäuschung für all jene unbelehrbaren Lehrer von Führungskräften sein, die immer noch davon ausgehen, dass es zwischen ihnen und den lernwilligen Führungskräften ein Wissensgefälle gibt. Ihre Täuschung liegt in der Annahme, dass Schwierigkeiten bei der Lösung von Führungsaufgaben ihre Ursachen im fehlenden Wissen der Führungskräfte haben. Die Antwort auf diese Annahme ist konsequenterweise eine weitere Füllung in den meist schon übervollen Wissensbehälter. Erstaunlicherweise treffen sie damit nicht selten auch die Erwartungen der Führungskräfte, die bei ihnen Rat für die Lösung ihrer Schwierigkeiten im Führungsalltag suchen, weil diese Führungskräfte die oben dargestellte Annahme, es fehle ihnen an Wissen, mit ihnen teilen.
Unseres Erachtens stellt sich nicht so sehr die Frage, was Führungskräfte in Seminaren und Workshops zum Thema Führung und Management noch nicht wissen bzw. erwarten, vielmehr was diese Führungskräfte brauchen, damit sie ihr vorhandenes Führungswissen in ihrem Führungsalltag anwenden können bzw. wollen?
1. Wille Führungskräfte brauchen den eindeutigen und klaren Willen zur Führung und zur Lösung der anstehenden Führungsaufgaben. Denn der Wille beinhaltet die Werte und den existentiellen Sinn, den Führungskräfte ihrer Funktion und ihrem Handeln geben und ist damit die Kraft, die gegen alle Einwände der Vernunft, gegen alle Argumente für das was nicht geht, gegen alle auftauchenden ABER, den Weg zur Lösung in sich trägt. Und dennoch ist es gerade der Wille zur Führung, den Führungskräfte vielfach neu entdecken müssen. Falsch verstandene Teamideologien und die Sicherheit auf dem Feld des Fachexpertentums unterlaufen den Willen zur bewussten Führungsarbeit und liefern auch noch „vernünftige“ Gründe für die Vernachlässigung der Führung.
2. persönliche Kraft Der Wille zur bewussten Führungsarbeit kann nur dann gelebt werden, wenn die Führungskraft genügend persönliche Kraft hat. Persönliche Kraft ist das Ergebnis eines bewussten Lebens, indem vor allem das Selbstmitleid besiegt wurde. Manchen Führungskräften fällt es allzu leicht, ihre Situation zu beklagen: schwierige Mitarbeiter*innen, unmögliche Vorgesetzte, schwierige Kunden, aggressive Mitbewerber, Zeitmangel, … es gibt beinahe nichts, worüber sie nicht klagen können. Sie beschäftigen sich so intensiv mit ihrer beklagenswerten Situation, dass sie in Gefahr sind, in ihrem Selbstmitleid zu ertrinken. Das ist ein Weg der schleichenden Kraftvernichtung. Wenden sich dagegen Führungskräfte den bekannten und neu zu entdeckenden Möglichkeiten, den vorhandenen oder aufzubauenden Ressourcen, Fähigkeiten, Potentialen, den Lösungen, der Kreativität, den Kräften der Entwicklung und Erweiterung zu, dann ist dies ein Weg der Kraft auf dem persönliche Kraft laufend wächst. Die Kraft ist weder von persönlichen Bedürfnissen noch vom vorhandenen Wissen abhängig; vielmehr vom Mut und vom Zutrauen, dem Leben, so wie es gerade ist (das beinhaltet auch die vorhandenen Möglichkeiten des Wandels), bedingungslos zu begegnen und dementsprechend zu handeln.
3. Selbst-Bewusstsein Selbstbewusstsein bedeutet weder ein aufgeblasenes Ich noch die unerschütterbare, in jeder Situation überlegene Persönlichkeit. Selbst-Bewusstsein heißt vielmehr, sich seiner selbst bewusst zu sein. Dies umfasst das rationale und emotionale Akzeptieren der persönlichen Geschichte, das Bewusstsein der gegenwärtig verfügbaren Fähigkeiten, des persönlichen Wissens, aber auch der gegenwärtigen Ängste und Grenzen und das Bewusstsein des persönlichen Entwicklungsweges, der Lernfelder für die nächste Zukunft; und es umfasst die unerschütterliche Suche nach dem Geheimnis des eigenen Selbst ohne die Möglichkeit, es jemals zu entdecken; denn: „das Selbst kann aufgrund der ihm eigenen Wesensart nicht beschrieben werden. Es ist, in der Tat, all das, was nicht zu beschreiben ist … Waren Sie jemals mit einem geliebten Menschen zusammen und wollten etwas sagen, was nicht in Worte zu fassen war? Nun, das ist es. Was Sie nicht sagen konnten - das war es“ das Selbst.
4. Respekt u. Wertschätzung Führungskräfte brauchen zur Ausübung ihrer Funktion und zur wirkungsvollen Erreichung ihrer Ziele den bedingungslosen Respekt vor den Menschen, mit denen sie arbeiten. Seien dies MitarbeiterInnen, Vorgesetzte, KollegInnen, Kunden, Lieferanten oder irgendwelche andere PartnerInnen. Der Respekt vor dem Leben des anderen und dessen Unbegreifbarkeit für mich ist die Basis für das Miteinander im Unternehmen. »Führungskräfte müssen lernen, mit Menschen zu reden, statt Formeln an Tafeln zu schreiben. Sie müssen lernen, Menschen zuzuhören, die nicht wissen, was eine ›Regressionsanalyse‹ ist. Im Endeffekt müssen sie lernen, was Respekt bedeutet, und wie wichtig er ist.« (Drucker, P. (1996): Umbruch im Management, Düsseldorf, S. 19)
5. kraftvolle Zukunftsbilder Führungskräfte brauchen eine Richtung, in die sie ihre verantworteten Organisationseinheiten lenken. Mit anderen Worten brauchen Führungskräfte ein Bild von der Zukunft ihres Unternehmens, ihres Bereiches, ihrer Abteilung, das eine Zugkraft für alle Handlungen im Alltag ausübt. Fehlt ein solches kraftvolles Zukunftsbild, so sind es die Probleme und der Alltag, die die Führungskräfte antreiben bzw. vor sich hertreiben.
Kraftvolle Zukunftsbilder erfordern vielfach den Abschied von Erfahrungen aus der Vergangenheit und eine offene Wahrnehmung für sich anbahnende Entwicklungen und Tendenzen auf unterschiedlichen Ebenen: politische, technische, soziale Entwicklungen, Tendenzen bei den Kunden, Zielgruppen und Mitbewerbern und am Arbeitsmarkt, sowie branchenspezifische und unternehmensinterne Veränderungen. Mit solchen Zukunftsbildern werden Führungskräfte zu unternehmerischen Gestaltern ihrer Organisationseinheiten und können ihre Mitarbeiter begeistern und mobilisieren.
Für Sie als Führungskraft stellt sich die Frage, welche der aufgeführten Qualitäten derzeit und in nächster Zukunft besondere Bedeutung haben, und in welcher Form Sie diese Qualitäten entwickeln bzw. üben. Die Beobachtung erfolgreicher Führungskräfte zeigt, dass die Einsicht und gut gemeinte Vorsätze nicht ausreichen; dass vielmehr nachhaltige und diszipliniert angewendete Handlungen dazu erforderlich sind. Denn: hinter jeder erfolgreichen Person steht ein bewusst und diszipliniert durchgeführter Entwicklungsweg.
6. Führungskräfte sind verantwortlich für das was sie tun und für das was sie unterlassen. Erfolgreiche Unternehmen und Institutionen brauchen mehr als wissende Führungstechniker in den verantwortungsvollen und einflussreichen Führungsfunktionen. Sie brauchen Personen, die über die Meisterschaft der Führung verfügen. Auf dem Weg zur/der Meisterschaft der Führung haben die bewährten Ausreden, weshalb das, was von Führungskräften getan werden sollte, nicht getan wird, keinen Platz, sie sind sozusagen uninteressant. Auch die an erster Stelle stehende Ausrede: ich weiß, aber dafür habe ich keine Zeit.
7. Sehen was ist Führungskräfte brauchen die Fähigkeit, konkrete Situationen so wahrzunehmen wie sie sind - und nicht wie sie sein sollten oder nicht sein dürfen. Dies erfordert zunächst einen schonungslosen, weiten, offenen und über das eigene Interpretationssystem hinausreichenden Blick für das Beobachtbare und Beschreibbare. Führungskräfte müssen bereit sein, das zu sehen, was sie sich nicht vorstellen können und auch das zu sehen, was sie lieber nicht sehen würden. Sehen was ist erfordert neben offenen Augen ein weites Herz, erfordert Mut und Emotionalität und erfordert die Bereitschaft zum Austausch über die eigenen Sichtweisen und die Wahrnehmungen anderer. Denn nur durch Kommunikation kommen wir zu abgesprochenen Wirklichkeiten als Basis für gemeinsam getragenes Handeln. Und es erfordert Respekt und Wertschätzung allem Gegebenen gegenüber!
8. Zugang zur Stille Der Alltag von Führungskräften ist meist laut, schnell, hektisch; Aufgabe an Aufgabe reihen sich ohne Unterbrechung aneinander, es gilt jeden Augenblick zu nützen, der Berg des Unerledigten bleibt konstant.
Dort wo es laut, schnell, hektisch ist, dort wo die nächste Aufgabe schon in der Türe steht, obwohl noch zwei drängend aktuell beschäftigen, dort ist für Führungskräfte gleichzeitig der Raum des Bekannten, Gewohnten, der Ort der (Über-)Fülle ; an dem sie sich daheim fühlen, an dem sie sich sicher fühlen. Führungskräfte brauchen die Fähigkeit, an diesem Ort des schnellen Tuns Gelassenheit zu praktizieren, um situationsadäquat und zielorientiert zu entscheiden und zu handeln. Sowohl diese Gelassenheit als auch Bilder einer kraftvollen Zukunft entstehen an einem anderen Ort - an einem Ort der Stille.
Für viele Führungskräfte ist allein die Vorstellung an die Stille, ohne die bereits wartende nächste Aufgabe, ohne unmittelbare Forderung, ohne messbaren Nutzen, eine Beunruhigung, der sie sich nur ungern aussetzen. Und doch verfügen Führungskräfte, die einen persönlichen Zugang zu ihrem persönlichen Ort der Stille haben, über eine besondere Wirkung im geschäftigen Alltag.
9. Teamfähigkeit Führungskräfte brauchen ein tief verankertes Verständnis von Teams und von Teamarbeit. Eine Binsenweisheit in arbeitsteiligen Organisationen mit komplexen Aufgaben, die das konzentrierte Zusammenspiel von Individuen erfordern. Über die Fähigkeit zur Teamarbeit verfügen demgegenüber nur ganz wenige Führungskräfte; einerseits weil diese erarbeitet werden muss, oft mit strenger Disziplin, Schritt für Schritt, über Jahre hinweg. Diese Disziplin zur nachhaltigen Entwicklung der Teamfähigkeit ersparen sich viele Führungskräfte und verzichten dementsprechend auf einen großen Teil des vorhandenen Wissens- und Fähigkeitspotentials ihrer MitarbeiterInnen. Und andererseits weil in Unternehmen allzu oft Teamfähigkeit propagiert wird, während die Rahmenbedingungen den Heros im Management alltäglich hochjubeln. Wie viele Unternehmen müssen eine unerträgliche Teamsituation ihres Vorstandsteams mit viel Anstrengung wettmachen, weil die Vorstandsmitglieder nicht einmal sehen, dass sie meilenweit von einem Miteinander entfernt sind, nur weil sie nicht mehr jeden Tag das Gegeneinander praktizieren. Wohl den Unternehmen, in denen Top-Managementteams teamfähig sind; in ihnen gibt es häufig viele funktionierende Teams und damit ein großes frei fließendes Potential zur Lösung von Aufgaben. Kunden spüren das unmittelbar!
10. Fähigkeit des Übens Ohne ausdauerndes Üben ist Weitung, Entwicklung, Veränderung nicht möglich. Wahres Üben ist der Same des Glücks, den man selbst zum Blühen bringt. (Reinhold Dietrich)
Wo immer ich ins Gespräch mit erfolgreichen Führungskräften komme, denen ihre Führungsarbeit Freude macht, die Begeisterung bei Kunden, bei Mitarbeiter*innen, bei Partnern entfachen können, bei denen das Tun leicht, einfach und wirkungsvoll ist, steckt dahinter ihr ausdauerndes, mit viel Disziplin und Energie beinahe bedingungsloses Üben, um erkannte Einsichten, Wissen und neue Aspekte zu festigen. Und zwar so lange und darüber hinaus, bis ihr Handlungswissen in Fleisch und Blut eingegangen sind. Die meisten von ihnen gehen den Weg des Übens um des Übens willen, d.h. für sie ist das Üben zur täglichen Selbstverständlichkeit geworden. Wenn Sie einmal auf dem Pfad des Übens unterwegs sind, gibt der Alltag laufende Gelegenheiten dazu.
Denn:
jede Führungssituation ist geeignet, Führung zu üben.
Üben ist bewusstes Tun. Der Übende lernt übend.
Übung ist der Boden auf dem Weg zur Meisterschaft.
(Dieser Text ist überwiegend aus: Häfele Walter (Hrsg.) (2007): OE-Prozesse initiieren und gestalten, ein Handbuch für Führungskräfte, Berater/innen und Projektleiter/innen, Haupt Verlag, Bern-Stuttgart-Wien)